Interview mit Herrn Dr. Helmut Linde von SAP über Data Science heute und in Zukunft
Herr Dr. Helmut Linde ist Head of Data Science bei SAP Custom Development. Der studierte Physiker und Mathematiker promovierte im Jahre 2006 und war seitdem für den Softwarekonzern mit Hauptsitz in Walldorf tätig. Dort baute Linde das Geschäft mit Dienstleistungen und kundenspezifischer Entwicklung rund um die Themen Prognose- und Optimierungsalgorithmen mit auf und leitet heute eine globale Data Science Practice.
Data Science Blog: Herr Dr. Linde, welcher Weg hat Sie in den Analytics-Bereich der SAP geführt?
Als theoretischer Physiker habe ich mich natürlich immer schon für die mathematische Modellierung komplexer Sachverhalte interessiert. Gleichzeitig finde ich es extrem spannend, geschäftliche Fragestellungen zu lösen und dadurch in der realen Welt etwas zu bewegen. Die SAP mit ihrer weltweiten Präsenz in allen größeren Branchen und ihrer umfassenden Technologie-Plattform hat mir die ideale Möglichkeit geboten, diese Interessen zusammenzubringen.
Data Science Blog: Welche Analysen führen Sie für Ihre Kundenaufträge durch? Welche Vorteile generieren Sie für Ihre Kunden?
Mein Team arbeitet global und branchenübergreifend, d.h. wir befassen uns mit einer großen Bandbreite analytischer Fragestellungen. Oft geht es dabei darum, das Verhalten von Endkunden besser zu verstehen und vorherzusagen. Auch die Optimierung von Lieferketten und Lagerbeständen ist ein häufiger Anwendungsfall. In unseren Projekten geht es z.B. darum, den Absatz von Tageszeitungen zu prognostizieren, Schichten für Call-Center-Mitarbeiter optimal zu planen, Lastspitzen in Stromnetzen zu vermeiden und vieles andere mehr.
Das Hauptaugenmerk meines Teams liegt dabei auf der Entwicklung von analytischen Software-Lösungen. Für unsere Kunden heißt das, dass sie nicht nur einmalig Wettbewerbsvorteile aus ihren Daten ziehen, sondern Prognosen und Optimierung wiederholbar, nachhaltig und skalierbar in ihre Geschäftsprozesse integrieren können. Außerdem profitieren Kunden natürlich von der Größe der SAP und unserer langjährigen Erfahrung. Bei den allermeisten Anfragen können wir sagen: „Ja, etwas sehr ähnliches haben wir schon einmal gemacht.“
Data Science Blog: Viele Unternehmen haben den Einstieg ins Data Science noch nicht gefunden. Woran hängt es Ihrer Erfahrung nach?
Zunächst einmal sehe ich – basierend auf der Menge an Anfragen, die auf meinem Schreibtisch landen – einen äußerst positiven Trend, der zeigt, dass in vielen Unternehmen das Thema Data Science enorm an Bedeutung gewinnt.
Andererseits gibt es sicherlich Fachgebiete, die leichter zugänglich sind. Nicht in jedem Unternehmen gibt es die kritische Masse an Expertise und Unterstützung, die für konkrete Projekte nötig ist.
Data Science Blog: Welche Möglichkeiten bietet Data Science für die Industrie 4.0?
Unter Industrie 4.0 verstehe ich eine immer stärkere Vernetzung von Maschinen, Sensoren und Erzeugnissen. Schon für das Zusammenführen und Bereinigen der dabei anfallenden Daten wird man einen steigenden Grad an Automatisierung durch Algorithmen benötigen, da ansonsten die manuellen Aufwände viele Anwendungsfälle unwirtschaftlich machen. Darauf aufbauend werden Algorithmen den Kern vieler neuer Szenarien bilden. Mit einigen unserer Kunden arbeiten wir beispielsweise an Projekten, bei denen die Qualität von Endprodukten anhand von Maschineneinstellungen und Sensorwerten vorhergesagt wird. Dies erlaubt eine präzisere Steuerung der Produktion und führt zu reduziertem Ausschuss. Ein anderes Beispiel ist ein Projekt mit einer Eisenbahngesellschaft, bei dem wir automatisch gewisse Stromverbraucher wie Heizungen oder Klimaanlagen für wenige Minuten abschalten, wenn im Stromnetz eine unerwünschte Lastspitze vorhergesagt wird.
Data Science Blog: Welche Tools verwenden Sie bei Ihrer Arbeit? Setzen Sie dabei auch auf Open Source?
In unseren Projekten orientieren wir uns immer an den Notwendigkeiten des konkreten Anwendungsfalles und an der bereits vorhandenen IT-Landschaft beim Kunden. Schließlich muss unsere Lösung dazu passen und sauber integriert und gewartet werden können. Natürlich kommen häufig hauseigene Werkzeuge wie SAP Predictive Analysis für die Modellbildung oder SAP Lumira für schnelle Visualisierung zum Einsatz. Als Plattform spielt SAP HANA eine große Rolle – nicht nur zur Datenhaltung, sondern auch zur Ausführung von Algorithmen und als Anwendungsserver. In SAP HANA gibt es auch eine Schnittstelle zu ‚R‘, so dass in manchen Projekten auch Open Source zum Einsatz kommt.
Data Science Blog: Was sind aktuelle Trends im Bereich Data Science? Um welche Methoden dreht es sich aktuell besonders stark bei SAP?
Einer der größten Trends der letzten Jahre ist sicherlich die zunehmend ganzheitliche Nutzung von Daten, insbesondere auch von rohen, unstrukturierten Daten gepaart mit einem höheren Grad an Automatisierung. Wo vor vielleicht fünf oder zehn Jahren noch großer Wert auf Datenvorverarbeitung und Feature Engineering gelegt wurde, werden diese Schritte heute zunehmend von den Tools selbständig durchgeführt.
Gleichzeitig wachsen klassisches Business Intelligence und Data Science immer mehr zusammen. Wir sehen eine steigende Zahl von Projekten, in denen Kunden analytische Lösungen implementieren, welche in Komplexität und Funktionsumfang deutlich über traditionelle Berichte und Dashboards hinausgehen, dabei aber durchaus ohne fortgeschrittene Mathematik auskommen.
Data Science Blog: Sofern Sie sich einen Ausblick zutrauen, welche Trends kommen 2017 und 2018 vermutlich auf uns zu?
Data-Science-Methoden und traditionelle Geschäftsprozesse werden immer enger verzahnt. In Zukunft übernehmen Algorithmen viel mehr jener Tätigkeiten, die auch nach umfassender Prozessautomatisierung heute immer noch von Sachbearbeitern zu erledigen sind – zum Beispiel eingehende Zahlungen einer Rechnung zuzuordnen, Lebensläufe von Bewerbern vor zu sortieren, die Plausibilität von Abrechnungen zu prüfen und Ähnliches.
Data Science Blog: Gehört die Zukunft weiterhin den Data Scientists oder eher den selbstlernenden Tools, die Analysen automatisiert für das Business entwickeln, durchführen und verbessern werden?
Es gibt definitiv einen Trend zu stärkerer Automatisierung bei den Tools und den starken Wunsch, Kompetenzen näher an die Endanwender zu bringen. Analysen werden zunehmend in den Geschäftsbereichen selbst durchgeführt.
Gleichzeitig sehe ich einen Wandel in der Rolle des Data Scientist. Es reicht nicht mehr, viele Algorithmen und ein paar Data Mining Tools im Detail zu kennen, um wirklich Mehrwert zu stiften. Der Data Scientist der Zukunft ist ein Vordenker, der ganzheitliche Visionen entwickelt, wie geschäftliche Fragestellungen mit Hilfe von Analytik gelöst werden können. Dabei müssen neue oder geänderte Geschäftsprozesse, ihre technische Umsetzung und algorithmische Lösungen gleichermaßen angegangen werden. Nehmen Sie als Beispiel das Thema Predictive Maintenance: Es gibt viele Data Scientists, die aus Sensordaten etwas über den Zustand einer Maschine ableiten können. Aber nur wenige Experten verstehen es, dies dann auch noch sinnvoll in reale Instandhaltungsprozesse einzubetten.
Die Nachfrage nach einem solchen Rollenprofil, für das es heute noch nicht einmal einen wirklich treffenden und allgemein gebräuchlichen Namen gibt, wird auch in Zukunft weit höher sein als die Verfügbarkeit von qualifizierten Kandidaten.
Data Science Blog: Wie sieht Ihrer Erfahrung nach der Arbeitsalltag als Data Scientist nach dem morgendlichen Café bis zum Feierabend aus?
Unsere Arbeitstage sind sehr abwechslungsreich. Jeder Data Scientist hat meistens ein größeres Kundenprojekt, das 60% bis 90% der Arbeitszeit benötigt. Dazu gehören normalerweise Workshops beim Kunden vor Ort – je nach Projekt und Standort können das zwei Tage in der Schweiz oder auch mal zwei Wochen in China sein. Außerdem fließt natürlich viel Zeit in die Analyse und Visualisierung von Daten, das Programmieren von Algorithmen und Anwendungen sowie die Erstellung von Unterlagen. Manchmal arbeiten wir nebenbei noch an einem anderen kleineren Projekt, zum Beispiel der Entwicklung eines Prototyps für eine Kundenpräsentation.
Einen Großteil unserer Projektarbeit liefern wir remote, das heißt, wir sind nur zu Workshops oder bei besonderem Bedarf beim Kunden vor Ort. Die Entwicklungs- und Analysearbeit erfolgt dann aus dem Büro oder, je nach Präferenz, auch aus dem Home Office. Insgesamt ermöglicht die Arbeitsweise eine gute Work-Life-Balance für alle Lebensmodelle.
Data Science Blog: Welches Wissen und welche Erfahrung setzen Sie für Ihre Data Scientists voraus? Und nach welchen Kriterien stellen Sie Data Science Teams für Ihre Projekte zusammen?
Der Großteil unserer Data Scientists hat einen akademischen Hintergrund mit Promotion und teilweise auch Post-Doc-Erfahrung in einem quantitativen Feld. Man sollte neben oder nach dem Studium schon einige Jahre praktische Erfahrung in quantitativen Analysen und idealerweise auch in Software-Entwicklung gesammelt haben, um als Data Scientist in Projekten erfolgreich zu sein. Daneben ist uns eine hohe Selbständigkeit und Eigenmotivation sehr wichtig, da wir in Projekten mit sehr unterschiedlichen Herausforderungen und vielen neuen und wechselnden Technologien konfrontiert sind, die hohe Umsicht und Flexibilität erfordern.
Unsere Projektteams stellen wir je nach Anforderungen zusammen. Bei Projekten, die stärker auf das Ergebnis einer Analyse abzielen, stellen wir oft ein kleines Projektteam komplett aus geeigneten Data Scientists zusammen. Wenn der Fokus stärker in Richtung eines Software-Produkts geht, wird häufig nur der analytische Kern und ggf. Anforderungs- und Projektmanagement von Data Scientists aus meinem Team übernommen. Dazu stoßen dann noch Kollegen aus anderen Bereichen, die beispielsweise Erfahrung mit bestimmten Backend-Technologien, als Software-Architekt, oder als UX-Designer mitbringen.
Data Science Blog: Grenzen Sie auch andere Rollen ab, wie beispielsweise den Data Engineer? Oder sind beide Tätigkeitsfelder untrennbar miteinander verbunden?
Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass der Data Scientist, der für die Analyse der Daten verantwortlich ist, so weit wie möglich auch in die Vorverarbeitung und Vorbereitung der Daten mit einbezogen wird. Je nach Projekt können gewisse Tätigkeiten auch von Kollegen mit anderem Profil übernommen werden, aber die dedizierte Rolle eines Data Engineers gibt es bei uns nicht.
Data Science Blog: Sind gute Data Scientists Ihrer Erfahrung nach tendenziell eher Beratertypen oder introvertierte Nerds?
Ein wirklich guter Data Scientist passt weder in die eine noch in die andere Schublade. Sie oder er überzeugt in erster Linie durch Kompetenz – und zwar sowohl in geschäftlichen Fragestellungen als auch in technischen und mathematischen. Gleichzeitig ist die Fähigkeit notwendig, gegenüber Projektpartnern und Kunden überzeugend aufzutreten und komplexe Sachverhalte klar und anschaulich zu strukturieren.
Data Science Blog: Für alle Studenten, die demnächst ihren Bachelor, beispielsweise in Informatik, Mathematik oder Wirtschaftslehre, abgeschlossen haben, was würden sie diesen jungen Damen und Herren raten, wie sie einen guten Einstieg ins Data Science bewältigen können?
Seien Sie neugierig und erweitern Sie Ihren Horizont! Die führenden Data Scientists sind Unternehmensberater, Software-Architekt und Mathematiker in einer Person. Versuchen Sie, systematisch Erfahrung in allen drei Bereichen aufzubauen.